Springe zum Inhalt

Interview mit Karl aus der FNP

Dieses Interview gab Karl Oertl der Frankfurter Neuen Presse.  In der Interview-Reihe „Der rote Faden“ werden verdienten Frankfurtern porträtiert.

Das Interview erschien in der Ausgabe vom 01.März 2014.

 

Der rote Faden: Er lacht trotzdem

von MARK OBERT

 

Seit einem halben Jahrhundert bringt er sein Publikum zum Lachen. Jenseits der Bühne hat er manch schwere Zeit durchgemacht. Im April wird er 75 – und will es ruhiger angehen lassen in der Bütt’. „Ich bin froh, dass ich das so lange machen konnte“, sagt Karl Oertl. Ihm widmen wir die 61 Folge unserer Serie „Der rote Faden“, in der wir jeden Samstag Menschen porträtieren, die Besonderes für Frankfurt leisten.

 

Foto: Salome Roessler

Wenn sieben Leute in einem Raum sitzen und acht gehen raus, muss einer wieder reinkommen, damit keiner mehr drin ist. „Verstehen Sie?“, fragt Karl Oertl. Was gibt es da zu verstehen? Logisch ist das, wenn man um zwei Ecken denkt. „Genau“, ruft Karl Oertl aus. Mengenlehre mit negativen Zahlen heißt das bei Mathematikern. Für Karl Oertl ist es genau der Aberwitz, den er liebt – und den er zuweilen, ein bisschen Risiko muss sein, auch auf der Bühne zum Besten gibt. „Man darf ja nicht zu kompliziert werden in der Fastnacht“, schon gar nicht, wenn mancher an den Biertischen vom Alkohol und vom Schunkeln benebelt ist. „Muss man alles einkalkulieren“, sagt Karl Oertl der alte Hase, der bunte Hund, der Obernarr.

Nur fürs Protokoll sei hier zusammengefasst, welche Verdienste der Mann um die Fastnacht in Frankfurt und Umgebung hat, von Fulda bis Mainz, vom Vogelsberg bis Odenwald. Seit bald einem halben Jahrhundert ist er, kaum dass die fünfte Jahreszeit eingeläutet wird, allgegenwärtig in seinen Rollen als Vogelsberger Bauer, als Weltreisender, als Arzt, als Zauberer auch, in seinen Ämtern als Moderator, als Protokoller, als Sitzungspräsident.

Allein 22 Jahre lang leitete er die TV-Sause „Hessen lacht zur Fassenacht“. In Florida ist er schon von einer Rezeptionistin in breitestem Hessisch freudig begrüßt worden. Über seine Büttenrednerschule, in der er Generationen von Narren für den Frohsinn geschliffen hat, haben Reporter aus der ganzen Republik geschrieben und sich auch ein bisschen gewundert darüber, dass es auf jeden Vokal ankommen kann, damit es nicht rattert und der Narr zu stottern beginnt wie ein Schüler an der Rechentafel.

Fastnacht oder Fassenacht: Wo Karl Oertl das Versmaß anlegt, ist Schluss mit lustig. Der Mann mag es perfekt, feilt an den eigenen Reimen unentwegt, hat oft die besten Einfälle bei der Hobbypflege: Er liebt die Gartenarbeit, er liebt das Kochen. In zwei Heftern bewahrt er seine Büttenreden auf, „alles in Handschrift“. Er hat sich an manchem Schüler die Zähne ausgebissen, vor denen, die sich ungemein lustig finden und es nicht sind, „vor denen graut mir“.

Karl Oertl, gesegnet mit ausdrucksstarker Mimik, sitzt im Bergen-Enkheimer Ausflugslokal „Schöne Aussicht“, jenseits der Fensterfont strahlt ein frühlingshaftes Bilderbuch-Frankfurt, aber er legt nun die Stirn in Falten und verzieht den Mund, als plagten ihn Bauchschmerzen: „Junge Leute, die tanzen, haben wir genug in den Vereinen“, sagt er, „aber es mangelt langsam an guten Büttenrednern.“

Er kam damals auf Anhieb gut an, als er die Fastnacht entdeckte – oder sie ihn. In Bergen-Enkheim hatten er und seine Frau Helga sich niedergelassen, drei Söhne im Grundschul- und Kindergartenalter hatten sie. Ihr Leben war nicht unbeschwert in den späten 60er Jahren, ihr Jüngster hat Down Syndrom.

Im Enkheimer Freibad wurde Helga einmal beschimpft, ein Behinderter habe da nichts zu suchen, giftete eine Frau. Zu Hause brach Helga in Tränen aus. Und Karl fasste einen Plan: Sie mussten seinerzeit sparsam leben, ein großes Haus hatten sie, Karl hatte zwar seinen Meister als Stahlbauschlosser gemacht, viel übrig blieb aber am Ende des Monats nicht. Also kratzte Karl die letzten Groschen zusammen, krempelte die Ärmel hoch und baute ein Schwimmbad im Garten, 7,80 auf 3,60 Meter, 1,20 Meter tief. „So ist er“, sagt Helga.

 

Lampenfieber gibt’s nicht

Sie kümmerten sich damals auch um Helgas blinde Mutter, engagierten sich im Blindenbund. Als man ihn eines Tages fragte, ob er ein bisschen Karneval in einer Einrichtung für Sehbehinderte machen würde, sagte Karl Oertl zu. Und es machte ihm Spaß. Er musste nicht aufwendig proben, nie hat er sich vor einen Spiegel gestellt, „da käme ich mir lächerlich vor“, ihn plagte auch kein Lampenfieber.

Er verließ sich auf das, was ihn auszeichnet: „einen Draht zu den Menschen herstellen“. Im Vorstand der SG Enkheim war er obendrein, 16 Jahre lang Vorsitzender. Ende der 70er Jahre stieg er beim Karnevalsverein Enkheim ein, der Rest eben ist Frankfurter Fastnachtsgeschichte.

Mit dem Ehrenbrief des Landes Hessen ist er ausgezeichnet worden, unlängst haben ihm die Fastnachter in Nidda, der Stadt seiner Kindheit, zum Doctor Humoris causa ernannt, den Hessischen Verdienstorden am Bande erhielt er, weil er sich seit drei Jahrzehnten für die „Lebenshilfe Hanau“, die seinen Sohn betreut, nicht nur an den tollen Tagen einsetzt, aber selbstverständlich auch da.

In den tollsten Zeiten hat er fünf Auftritte pro Tag absolviert, da blieb für die Familie nicht viel Zeit. Beruflich wechselte er irgendwann zur Saalbau Gesellschaft, Inspektor für fünf Bürgerhäuser war er, er konnte ja immer gut mit den Stadtoberen, Walter Wallmann schätzte ihn, später hat er für Petra Roth Büttenreden geschrieben und sie unterrichtet, „eine sehr talentierte Schülerin“, sagt er. Aber wie viel Stunden hat ein Tag? „Ach ja, vielleicht hätte ich mehr Zeit mit meinen Jungs verbringen sollen“, sagt er. Sie verübeln ihm nichts, da ist er sich sicher, schon gar nicht, dass der behinderte Sohn besonders viel Aufmerksamkeit brauchte. Banker ist der eine Sohn geworden, Zimmermann der andere, „so verschieden“, sagt Karl Oertl, lässt eine Pause entstehen und sagt schließlich einen Satz, der programmatisch sein dürfte für sein Leben. „Die Fastnacht war für mich halt immer auch eine Ablenkung.“

Man könnte es auch so sagen: Auf der Bühne ist er ganz bei sich. Dass man ihn nur anzustupsen braucht, damit er ein halbstündiges Programm – „länger wär’s eine Sünde“ – rausschießt, muss er gar nicht behaupten. Schnell an diesem Vormittag in der „Schönen Aussicht“ besteht daran kein Zweifel mehr. Kaum hat der Karnevalsveteran Platz genommen, ist er schon in seinem Element, und Gattin Helga legt die Hände in den Schoß und lässt den Karl erzählen, manchmal nickt sie, wenn er – „gell?“ – sich den Wahrheitsgehalt der ein oder anderen Anekdote bestätigen lässt, zuweilen gibt sie ihm das Stichwort.

Natürlich verlässt auch er sich auf die Wirkung des anzüglichen Herrenwitzes, weil die Zote seit Urzeiten nun mal der gemeinsame Nenner in der Fastnacht ist, „man darf ja nicht mehr bösartig sein“, sagt Karl Oertl, „schon gar nicht politisch unkorrekt.“ Aber viel mehr als ein Zotenreißer ist er eben ein genauer Beobachter und ein Geschichtenerzähler; jede launige Begebenheit des Alltags erhält bei ihm dramaturgischen Kniff, Spannungspausen inklusive, wobei es stets neckisch blitzt aus den auffallend kleinen Augen im wuchtigen Kopf.

Der Dickschädel, Gattin Helga nickt wissend, ist er nicht nur sprichwörtlich.

 

Ein kleiner Eklat

Und also geht man mit Karl Oertl auf die Reise durch seine gar nicht kleine Welt der Missverständnisse, der Absurditäten, der Situationskomik. Denn Karl Oertl ist rumgekommen, einmal sogar auf einem Kreuzfahrtschiff bis nach Grönland, wo er Abend für Abend seinen Auftritt hatte und es gar zu einem kleinen Eklat kam. Weil er das Publikum mindestens für bildungsbürgerlich ambitioniert hielt, rezitierte er Ringelnatz, „Das Gesellenstück“, worin es um einen kunstvoll gefertigten Sarg mit eingebautem Unterhaltungsprogramm geht.

Doch das Publikum, überwiegend schon im gesetzten Alter, nahm ihm das Gedicht mit dem Sarg dermaßen übel, dass es sich hernach beim Kapitän beschwerte, Karl Oertl habe sich auf morbide Weise über den nicht mehr fernen Tod lustig gemacht. „Die haben das einfach nicht verstanden“, wundert er sich heute noch leicht empört. Den Zuhörer freut’s, der Zuhörer muss lachen, weil Oertl mit seiner knarzige Stimme spielt, mit diesen Vogelsberger Konsonanten auch, so hart, als knackten da Nüsse in seinem Mund.

Oft sitzt er zu Hause und schreibt seine Erlebnisse in aller Welt nieder, in 52 Ländern war er. Als Reiseleiter hat er in Spanien gejobbt, als junger Schmied hat er in Argentinien gearbeitet, nahe Rosario, „der Heimatstadt Che Guevaras“, was er erwähnt, weil er doch auch dessen Tochter kennt. Dreimal auf Kuba war er, der gut Spanisch spricht und zwischen Chile und Mexiko fast alle lateinamerikanischen Länder bereist hat. Die Kultur der Inkas fasziniert ihn ebenso wie die der Inuit, und weil auch ein Faible für Cowboys und Indianer hat, saß er in den USA in einem Tipi einer Indianerfrau gegenüber, die einst mit John Wayne einen Film gedreht hat. „Hab’ niemals Heimweh, aber immer Fernweh – das ist meine Devise“, sagt er.

Es ist mehr noch ein Lebensgefühl, das ihn seit Kindertagen an- und immer wieder forttreibt, wohl auch, weil das mit der Heimat so eine Sache ist. Westernromane hat er verschlungen als Junge, Landkarten studiert. Der Enge des Dorfes wollte er entfliehen als Kind, einer Enge mit viel Arbeit und viel Entbehrungen. Geboren wurde Karl Oertl 1939 in Karlsbad im Egerland, im heutigen Karlovy Vary, Tschechische Republik.

Der Vater fiel 1942, und nach dem Krieg wurden die Mutter, Karl und seine zwei Geschwister vertrieben. Im Viehwaggon flüchteten sie nach Österreich, aber niemand wollte sie. Sie zogen weiter nach Süddeutschland, niemand wollte sie. So kamen sie in den Vogelsberg, nach Nidda. Dort setzte sich der Bürgermeister für sie ein, eine Familie nahm sie auf. Die erste Zeit schuftete die Mutter den ganzen Tag auf dem Acker, und je älter Karl wurde, desto häufiger und schwerer musste auch er anpacken. „Ich wusste schon als Schulkind, wie man Kühe melkt.“ Fünf Kilometer war sein Schulweg lang, er musste ihn zu Fuß bewältigen, bei Wind und Wetter. „Damals habe ich gelernt, mich durchzubeißen.“

Mit 13 verließ er das Gymnasium, verließ er sein Dorf und zog ins nächste. Unabhängig wollte er sein, auf eigenen Füßen stehen. Bei einem Schmied ging er in die Lehre, der schonte ihn nicht. 16 Stunden am Tag ließ er Karl den Hammer schwingen. Karl hatte Ziele, Frankfurt war das nahe: Nach der Lehre arbeitete er für die Farbwerke Hoechst, später für MAN, er hat am Atomkraftwerk in Kahl mitgebaut, er hat den größten Hochofen Europas in Duisburg zusammengeschweißt.

Als er auf Montage in Argentinien war, packte ihn die Sehnsucht nach einer eigenen Familie. Eine Bekannte in Frankfurt vermittelte ihm eine Brieffreundin, Helga aus Bergen-Enkheim. „Sie war die Schönste“, sagt er, und sie sitzt da und lächelt verlegen. Sie war auch eine mit einem harten Schicksal, das schweißte sie zusammen, Vollwaise ist sie, ist aufgewachsen bei einer Pflegemutter, eben jener blinden Mutter, „einer guten Frau“, sagt Karl Oertl. Seit 53 Jahren sind sie verheiratet, es war und blieb immer Bergen-Enkheim – bis vor vier Monaten.

 

Alter Narrenstreit

Das letzte Jahr war turbulent, unschön auch. Narrenstreit ist das Stichwort, er will davon nicht mehr reden. Klaus Fischer, „mein guter Freund“, hat nach 20 Jahren das Handtuch als Präsident des Großen Rats geschmissen, Vorwürfe standen im Raum, es ging auch um Geld, „nichts ist nachgewiesen worden“, sagt Karl Oertl.

Auch ihm warf man vor, dass er für seine Büttenrednerschule Geld nimmt. „Ich bin immer Fastnachtsprofi gewesen“, sagt er, all die Auftritte rein ehrenamtlich zu machen, „ja wie soll das denn gehen?“ Ein dickes Fell hat er nicht, „nie gehabt“. Neid und Vereinsmeierei: „Von beidem habe ich mehr erlebt, als mir lieb war.“

Unter Streit leidet er, aber er sucht ihn auch, wenn er es für geboten hält, den Karnevalsverein Enkheim hat er 1990 verlassen, sich der Bornheimer Karnevals-Gesellschaft angeschlossen, „lange her“, sagt er. Er hat die Büttenrednerschule im Herbst dichtgemacht, er will überhaupt kürzer treten, aber was heißt das schon? Die Fastnachtsparty am vergangenen Donnerstag im Nordwestzentrum hat er organisiert und moderiert, am Dienstag steigt an gleicher Stelle die nächste. Für die dort auftretenden Narren, die Gardemädchen, kocht er Kartoffelsuppe, kauft er die Getränke ein, für 200 Personen.

Außerdem sind die Wege länger geworden. Vor vier Monaten also sind Helga und er nach Altenstadt bei Büdingen umgezogen, in einen Bungalow, „schweren Herzens“, sagt er, „aber wir haben’s da schön.“ Er hat einen Herzschrittmacher, die Knie schmerzen unter der Last seines bulligen Körpers, im vergangenen Jahr hätte er wegen einer Blutvergiftung beinahe ein Bein verloren.

Damals lag er im Krankenhaus und grübelte und fällte einen Entschluss. Sie müssen in ein kleineres Haus, eines ohne Treppen. Wenn Karl Oertl es für notwendig erachtet, verpflanzt er auch noch alte Bäume. „Er fällt Entscheidungen alleine“, sagt seine Helga. Ihr hat er es versprochen, langsamer zu machen. „Ohne Bitterkeit“, sagt er. 75 wird er im April. „Das war für mich immer so ein magisches Alter.“ Das hat er auch schon gesagt, als er 70 geworden ist. „Wir werden’s sehen“, sagt Helga Oertl.

Text und Foto (c) by Frankfurter Neuen Presse, www.fnp.de

error: Dieser Inhalt gehört der BKG 1901! Bitte nicht kopieren.